Die Aussagekraft von Technischen Datenblättern
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In allen Industriebereichen gehören Technische Datenblätter zum Alltag. Jeder kennt sie und wird vielfach mit ihnen konfrontiert. Technische Datenblätter sollen dem Anwender Informationen über Eigenschaften, Aufbau und Verwendung von Produkten und Materialien geben. Dies ist auch in der Gummiverarbeitung nicht anders. Am häufigsten treten sie dabei im Zusammenhang mit Kautschukmischungen auf, deren Charakteristika in den Technischen Datenblättern (Material-Datenblättern) festgehalten und beschrieben sind.
Anwender legen häufig viel Wert auf die Auskünfte Technischer Datenblätter. Bei Anfragen über Formteile (Beispiele verschiedener Formteile finden Sie hier) verlangen Kunden in der Regel die den infrage kommenden Material-Mischungen zugrunde liegenden Datenblätter und ziehen diese als Entscheidungsgrundlage heran.
Inwiefern dieses Vorgehen sinnvoll ist, was Material-Datenblätter im Gummibereich wirklich aussagen und was nicht, soll in diesem Blogbeitrag erklärt werden.
Was Material-Datenblätter von Kautschuk-Mischungen aussagen
Um zu erläutern, welche Informationen man aus Material-Datenblättern gewinnen kann, sehen wir uns beispielhaft das technische Datenblatt zu Werkstoffs EF650 des schwedischen Konzerns Trelleborg AB an, einem der größten Gummi-Verarbeiter weltweit.
Unabhängig vom Anbieter sind Material-Datenblätter übrigens in den meisten Fällen sehr ähnlich aufgebaut.
Quelle & Download: Trelleborg AB
Quelle & Download: Trelleborg AB
Wie man dem oberen Teil des Datenblatts von Trelleborg AB entnehmen kann, handelt es sich bei dem Werkstoff EF650 um eine schwarze EPDM-Mischung mit einer Härte von 45 + / - 5 Shore A. Anders als Trelleborg AB geben Hersteller an dieser Stelle oft auch die Vernetzungsart des Werkstoffs an, also ob es sich bei der EPDM-Mischung zum Beispiel um eine Peroxid- oder Schwefelvernetzung handelt.
In den Zeilen darunter sind verschiedene mechanische Werte der Mischung sowie die dazugehörigen Messverfahren aufgelistet. Die Zugfestigkeit (also die Kraft, die benötigt wird, um einen Normprüfkörper zu zerreißen) des Materials EF650 liegt demnach bei 13,3 Mpa und die Bruchdehnung (Längenausdehnung eines Probekörpers bis zu dessen Zerreißen) bei 561 Prozent. Der Druckverformungsrest wird bei einer Haltedauer von 24 Stunden bei 100 °C mit 20 Prozent angegeben. Diejenigen, die genauer wissen möchten, wie die mechanischen Eigenschaften von Kautschuken gemessen werden, haben die Möglichkeit, dies in unserem früheren Blogeintrag "Die mechanischen Eigenschaften von Elastomeren und ihre Prüfung" nachzulesen.
Zusätzlich zu den genannten Messungen, die entsprechend der Normvorgaben bei Raumtemperatur durchgeführt werden, hat Trelleborg AB auch die Eigenschaften des Materials bei erhöhter Temperatur und bei Kontakt mit Wasser und Wasserdampf getestet. Die Werte hierzu sind auf Seite 2 des Material-Datenblatts angegeben. In allen drei Fällen sieht man, dass sowohl die Zugfestigkeit als auch die Bruchdehnung durch die veränderten Bedingungen schlechter abschneiden.
Einen wichtigen und entscheidenden Hinweis gibt das Technische Datenblatt am Ende von Seite 1:
„Die angegebenen Kennwerte sind Mittelwerte und wurden an Normprobekörpern in Anlehnung an die entsprechende Norm bestimmt. Sie dürfen nicht als Spezifikationswerte verwendet werden. Auch sind sie nicht mit am Fertigteil bestimmten Kennwerten vergleichbar. Der Abnehmer ist insbesondere nicht davon befreit, selbst die Eignung unserer Ware für den beabsichtigten Verwendungszweck zu prüfen. Das Datenblatt unterliegt nicht dem Änderungsdienst.“
Diese Einschränkungen sind von enormer Bedeutung. Wir werden darauf aber gleich im Abschnitt „Das Problem mit Material-Datenblättern“ eingehen.
Technische Datenblätter von Gummi-Mischungen sind jedoch aus folgenden Gründen sehr nützlich:
Zum einen bieten sie wertvolle Anhaltspunkte und Orientierung bei der Einschätzung der mechanischen Eigenschaften eines Elastomers.
Dank der standardisierten Prüfverfahren lassen sich zudem verschiedene Werkstoffe miteinander vergleichen. Mithilfe dieser Informationen kann der Anwender Rückschlüsse ziehen auf die Eignung eines Materials für seine jeweilige Anwendung.
Auch enthalten Material-Datenblätter häufig Angaben zur Vernetzung der Kautschuk-Mischung sowie Informationen über für manche Einsatzgebiete geforderte Zulassungen (Biokompatibilität, FDA, etc.).
Das Problem mit Material-Datenblättern
Für den Leser und Anwender ist es wichtig, sich neben dem gerade beschriebenen Nutzen und den Informationen, die er aus Technischen Datenblättern gewinnen kann, auch bewusst zu sein darüber, was Material-Datendatenblätter nicht aussagen und somit die Grenzen dieser zu kennen.
Daher möchten wir in diesem Abschnitt auf einige Einschränkungen aufmerksam machen:
Zunächst einmal ist zu sagen, dass Material-Datenblätter stets nur eine Momentaufnahme darstellen. Die Gummimischung wird hergestellt und dann die entsprechenden Prüfungen durchgeführt, um die mechanischen Werte festzustellen.
Wird zu einem späteren Zeitpunkt aber die Mischung für den Kunden erneut produziert, können hierbei durchaus größere Abweichungen von den ursprünglich angegeben Werten auftreten. Von Materialcharge zu Materialcharge sind durchaus Schwankungen von +/- 10 Prozent möglich. Der Grund hierfür ist, dass eine Gummi-Mischung aus diversen Inhaltsstoffen besteht, die selbst einer Schwankung unterliegen und somit die endgültigen mechanischen Eigenschaften beeinflussen. Daher werden die meisten Kautschuk-Mischungen auch in einem Toleranzbereich von +/- 5 Shore A angegeben.
Die Tatsache, dass Werkstoffe in ihren mechanischen Eigenschaften in Bezug auf die Werte des Datenblatts Schwankungen unterliegen, sollte daher vom Anwender unbedingt bei der Auslegung und der Beanspruchung des geplanten Formteils berücksichtigt werden.
Teilweise ist es möglich, alle Werte bei jeder Chargen-Anlieferung erneut prüfen zu lassen. Dies ist aber mit Aufwand verbunden und kann neben den Kosten gegebenenfalls zusätzlich die Lieferzeit erhöhen.
Sehen wir uns an der Stelle noch einmal das Datenblatt des Werkstoffs EF650 von Trelleborg AB an. Im Textabschnitt unten auf Seite 1 wird erwähnt, dass die mechanischen Prüfungen an Normprobekörpern durchgeführt wurden und nicht mit den Werten am Fertigteil vergleichbar sind. Dies gilt generell für Material-Datenblätter von Elastomeren und ist ein ganz entscheidender Punkt. Die mechanischen Eigenschaften hängen stark von der Geometrie des Fertigteils ab. Hinsichtlich des Druckverformungsrests spielt zum Beispiel die Dicke des (Prüf-)Körpers eine wesentliche Rolle.
Darüber hinaus werden gemäß den Normvorgaben die meisten Prüfungen bei Raumtemperatur und Luftkontakt durchgeführt. Am Beispiel-Datenblatt werden auf Seite 2 zudem noch einige Werte des Materials bei erhöhter Temperatur und bei Kontakt mit Wasser und Wasserdampf angegeben, was aber generell nicht die Regel ist. Insofern ist es oft nicht leicht, eine exakte Aussage über das mechanische Verhalten eines Fertigteils bei Kontakt mit anderen Medien wie beispielsweise verschiedenen Chemikalien zu treffen.
Gleiches gilt für veränderte Temperaturbedingungen. Die Bedeutung von Temperaturveränderungen wird häufig unterschätzt, obwohl diese gravierenden Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften eines Elastomers haben. Die auf einem Datenblatt dargestellten Werte können sich dramatisch verschlechtern, wenn die Temperatur sinkt oder steigt. Selbst, wenn bestimmte Materialien eine gute Hitzebeständigkeit aufweisen, heißt das nicht, dass ihre mechanischen Eigenschaften bei hohen Temperaturen die gleichen Qualitäten aufweisen wie auf dem zugrunde liegenden Datenblatt (und somit bei Raumtemperatur).
Die Abbildungen 1 & 2 zeigen die Ergebnisse einer Untersuchung, wie sich bestimmte mechanische Werte einer ausgewählten FKM- bzw. Viton-Mischung bei Temperaturveränderungen entwickeln. Sowohl die Bruchdehnung als auch die Reißfestigkeit nehmen dabei deutlich ab. Dies ist auch ein Grund für die große Verbreitung von Silikon: Im Vergleich zu anderen Werkstoffen behält Silikon seine mechanischen Eigenschaften auch bei großen Temperaturschwankungen zu einem sehr hohen Grad bei.
Abbildung 1: Veränderung der Bruchdehnung einer ausgewählten Viton ® - Mischung bei Temperaturänderung
Abbildung 2: Veränderung des Weiterreißwiderstands und des Spannungswerts (100%) einer ausgewählten Viton ® - Mischung bei Temperaturänderung
Aufgrund der Grenzen technischer Datenblätter ist es für den Anwender daher unbedingt ratsam, das ausgewählte Material am Fertigteil vorab ausgiebig in der geplanten Anwendung unter den realistischen Einsatzbedingungen zu testen. Nur so lassen sich das tatsächliche Verhalten einer Kautschukmischung in der geplanten Anwendung ermitteln, Grenzen der Belastbarkeit erkennen und Erkenntnisse gewinnen, die aus dem Material-Datenblatt nicht abzulesen sind.
Allerdings können auch so nie alle Eventualitäten berücksichtigt werden, da nicht immer vorherzusehen ist, wie und unter welchen Bedingungen ein Produkt zum Beispiel beim Endanwender eingesetzt wird.
Unerwartete Kälte und der Absturzes der Raumfähre Challenger
Ein äußerst tragisches und vermutlich gerade deshalb sehr prominentes Beispiel für die Auswirkungen von Temperaturänderungen auf die Eigenschaften eines Elastomers ist der Absturz der US-Raumfähre Challenger aus dem Jahr 1986.
Das Space Shuttle der NASA, das im Jahr 1983 seinen Jungfernflug bestritt, hatte bereits neun erfolgreiche Weltraummissionen absolviert, ehe es am 28. Januar 1986 73 Sekunden nach dem Start der 10. Mission STS-51-L in etwa 15 Kilometern Höhe zerbrach. Dabei kamen alle sieben Besatzungsmitglieder inklusive der Grundschullehrerin Christa McAuliffe, die im Rahmen eines Sonderprogramms der NASA Teil der Crew war, ums Leben. Dies stellte den bis dahin schwersten Unfall in der Geschichte der Raumfahrt der Vereinigten Staaten dar.
Das Video zeigt die zugehörige Liveberichterstattung des U.S.-Nachrichtensenders CNN.
Als Ursache für die Katastrophe wurde ein Elastomer-O-Ring ausgemacht. Beim Bau und der Montage der Feststoffraketen (Solid Rocket Booster, SRB) des Space Shuttles wurden O-Ringe verwendet, die unter anderem das Ausströmen von heißen Verbrennungsgasen verhindern sollten. Als Werkstoff für die O-Ringe wurde aus diesem Grund FKM gewählt, da es sehr beständig gegenüber hohen Temperaturen ist und in Umgebungen von 200 °C und höher eingesetzt werden kann. Problematisch an FKM ist allerdings, dass es nur einen geringen Widerstand gegen bleibende Verformung bei kalten Temperaturen besitzt.
Beim Start der Challenger-Raumfähre am 28. Januar 1986 und in der Nacht davor waren die Temperaturen kälter als erwartet.
Ein O-Ring hat normalerweise die Funktion, dass er durch die Elastizität des Gummis eine Vorspannung bzw. einen positiven Druck gegenüber einer Oberfläche aufbaut und so abdichtet. Je niedriger dabei der Druckverformungsrest (siehe hier) des Werkstoffs, desto besser ist die Dichtwirkung. In der Regel besitzen FKM-Mischungen gute (also niedrige) Druckverformungsreste. Wie oben beschrieben verändern sich die Eigenschaften eines Elastomers aber mit den Temperaturbedingungen.
Im Fall der O-Ringe der Challenger-Raumfähre gingen genau diese Eigenschaften (niedriger Druckverformungsrest) durch die schwache Kälteresistenz des FKM-Kautschuks verloren. Die Dichtwirkung war nicht mehr gegeben und es entstand ein Leck. Durch dieses Leck an den O-Ringen trat heißes Verbrennungsgas an der Seite der Feststoffraketen aus, das eigentlich durch die Hauptdüse am Heck entweichen sollte. Die austretenden Gase beschädigten eine Verbindung der Feststoffrakete mit dem Wasserstofftank, was letztlich zu einer Zerstörung des Tanks und zur Entzündung der Raumfähre führte.
Auf diesen Umstand wies der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman, der Mitglied der Untersuchungskommission war, hin und stellte den Zusammenhang anschaulich auf einer Pressekonferenz dar:
Aufgrund seiner vielen Stärken blieb FKM übrigens auch in der Folge in den Feststoffraketen (Solid Rocket Booster, SRB) als O-Ring- und Dichtungsmaterial erhalten. Die Ingenieure berücksichtigten bei ihren Entwicklungen nun die Erkenntnisse aus dem tragischen Absturz der Challenger. Sie änderten das Design bzw. den Aufbau der O-Ringe und integrierten Heizungen, um die Temperatur nicht unter das für FKM kritische Niveau sinken zu lassen. Seither gab es keine Probleme mehr mit den O-Ringen.
Wenn Sie noch Fragen zu diesem Blogpost haben oder möchten, dass demnächst ein bestimmtes Themengebiet rund um Elastomere behandelt wird, melden Sie sich gerne bei uns per E-Mail unter info@hepako.de
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